In drei Worten: Herzzerreißend – tieftraurig – anrührend
Der sechsjährige Zach muss hautnah das unvorstellbare Grauen miterleben: Seine Grundschule wird von einem Attentäter mit Schusswaffe heimgesucht. Er kommt davon, doch sein großer Bruder Andy überlebt den schrecklichen Tag nicht. Die Familie ist paralysiert. Während die Mutter zwischen Nervenzusammenbruch und wütendem Aktionismus changiert, versucht der Vater krampfhaft, die Fassade der Normalität aufrecht zu erhalten, und verkriecht sich in Arbeit. Zach bleibt unterdessen mehr oder weniger allein im Kampf gegen seine Alpträume und mit all den Fragen und dunklen Gedanken, die ihm zusetzen. Kann der kleine Mann über alle hinauswachsen und die Familie wieder zusammenführen?
» Nach einer Weile legte Daddy das Sweatshirt auf seinen Schoß und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Dann drehte er sich zu mir um. ›Wir müssen jetzt stark sein, Zach, alle beide. Wir müssen stark sein für Mommy, okay?‹« (S. 57)
Die Geschichte entwickelt eine fast lautlose emotionale Brutalität, die ihresgleichen sucht und weit über die Schilderungen vom Attentat hinausgeht, mit der »Alles still auf einmal« in medias res startet. Denn das Schlimmste sind nicht einmal die bangen Minuten, die der kleine Zach eingepfercht im Wandschrank verbringt, den Schüssen und Schreien lauschend. Das Leben danach hält für die zarte Kinderseele noch größere Herausforderungen bereit. Denn seine Eltern sind nicht mehr in der Lage, sich um ihn zu kümmern. Das geht so weit, dass Zach am Tag des Attentats, während seine Eltern mit ihm verzweifelt zwischen Tatort und Krankenhaus pendeln, nichts anderes übrig bleibt, als in die Hose zu machen, da trotz Bitten niemand mit ihm eine Toilette aufsucht. Zur Krönung bleibt dies unbemerkt und man legt ihn am Abend mit der zwischenzeitlich getrockneten Hose in sein Bett. Als Mutter bereitet einem die Lektüre an dieser und anderer Stelle fast körperliche Schmerzen. Bezeichnend auch, dass Zach die Wochen danach, zunächst unbemerkt, viel Zeit allein in einem weiteren Schrank verbringt. Dieses Mal zu Hause, im Zimmer seines großen Bruders.
»›Was ist das denn?‹, fragte er. ›Gefühleblätter‹, sagte ich […] ›Wofür steht Rot?‹ ›Schämen.‹ ›Schämen? Warum Schämen?‹ ›Weil ich ins Bett mache‹, sagte ich, und mein Gesicht wurde ganz heiß. […] ›Und Gelb?‹ Es war, als ob Daddy ein Quiz mit mir macht. ›Glücklich‹, sagte ich und sah Daddy wieder an, um zu sehen, ob er es schlimm findet, dass ich ein Blatt für Glücklich gemalt habe, obwohl Andy doch tot ist. Und auf einmal wollte ich das Blatt gar nicht mehr dort hängen haben. ›Und wofür ist das mit dem Loch in der Mitte?‹ ›Für Einsam‹, erklärte ich. ›Einsam ist durchsichtig, deshalb habe ich ein Loch in die Mitte geschnitten, denn es gibt ja keine durchsichtige Farbe.‹« (S. 222/223)
Auch mit seinen emotionalen Nöten bleibt er sich selbst überlassen. Er hat Alpträume, viele Fragen über den Tod und den Täter, die er sich nicht zu stellen traut. Zudem steckt er mitten im Gefühlschaos aus Trauer, Wut und Momenten der Freude, denn er hat überlebt während sein Bruder sterben musste. Ein Bruder, für den sich das Verlustgefühl in Grenzen hält. Häufig drangsalierte Andy ihn und war für die gesamte Familie steter Quell von Zwist und Streitigkeiten. Doch wie soll er verstehen, dass die Erwachsenen das alles im Angesicht des Todes irgendwie zu vergessen scheinen und voll der positiven Worte für den großen Bruder sind? Seine Eltern, die in dieser schwierigen Zeit Halt geben sollten, verlieren selbst jeden Halt, driften auseinander. Das Umfeld kann ihm auch nur bedingt helfen, verliert sich in Plattitüden. Doch immerhin, schon kleine Gesten von Außenstehenden zeigen Zach, dass er gesehen wird und dass er nicht allein ist. Man denke beispielsweise an den Anhänger, den er von seiner Lehrerin geschenkt bekommt. Ein Appell auch an die Gesellschaft, nicht wegzuschauen.
»›Wünschst du dir manchmal, dass ich tot bin? Ich meine statt Andy? Dass Andy noch hier ist und ich nicht?‹ Ich spürte, wie wieder Tränen in meine Augen kamen. Daddy starrte mich einen Moment lang an und machte seinen Mund ein paar Mal auf, aber es kamen keine Wörter raus, so als ob er erst üben muss, bevor er etwas sagen kann.« (S. 232)
Im starken Kontrast zu den schwer verdaulichen Tatsachen steht die kindliche Naivität, und, man möchte beinahe sagen, Leichtigkeit, mit der die Geschichte aus Zachs Perspektive geschildert wird. Er berichtet über das Chaos um ihn herum und in seinem Innern, teils staunend, immer ungefiltert und ohne Mitleid zu heischen. Dabei kennt er auch wenig Berührungsängste, was negative Gefühle und Tabuthemen angeht. Das ist es auch, was die Geschichte so einzigartig und anrührend macht. Der Stil erinnert an Emma Donoghues Bestseller »Raum«, in dem ebenfalls aus der Perspektive eines kleinen Jungen über ein stark erschütterndes Thema berichtet wird.
Fazit: Auch jetzt, mehrere Wochen nach der Lektüre, lässt die Geschichte nicht los. Ein Buch, das unter die Haut kriecht und tiefe Spuren hinterlässt. Dennoch birgt es Hoffnung und zeigt, welch beeindruckende Stärke in einer Kinderseele schlummern kann.
Rund ums Buch:
Das Original erschien unter dem vielseitig interpretierbaren Titel »Only child« (dt. »Einzelkind«). Es ist das Erstlingswerk der in Bremen aufgewachsenen Autorin, die heute mit drei Kindern in der Nähe von New York lebt.
Alles still auf einmal * Rhiannon Navin * April 2019 * DTV * Paperback * 384 Seiten * 978-3-423-26217-0 * 15,90 EUR